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Ausstellung: Haut Kontakt
Michael Sailstorfer + Thomas Kratz
Ort: SMAC Berlin
link

27/4/22 - 15/5/22

Text: Hilka Dirks


Ein heftiges Atmen, beißender Geruch, ein elektrisches Knistern, Farbe wird zu Material, ihre Töne zu Metaphern, die Natur zur Komplizin.

In der Ausstellung Haut Kontakt untersuchen und verhandeln Michael Sailstorfer und Thomas Kratz Fragen nach dem Leben der Dinge, der Entstehung von Bedeutung und der Grenze zwischen Innen und Außen. Thomas Kratz und Michael Sailstorfer sind schon seit vielen Jahren befreundet, und nun ist es ihre erste Ausstellung, in der die zwei Künstler zusammen ihre Werke präsentieren.

Michael Sailstorfer, *1979 in Deutschland, Studium an der Akademie der Bildenden Künste München und dem Goldsmiths College, London, fordert und erweitert mit seinen Werken den herkömmlichen Skulpturbegriff. In seinen Arbeiten werden leblosen Gegenständen neuer Odem eingehaucht, Relationen vertauscht, der natürliche Lauf der Dinge aufgehoben, die Natur zur Komplizin der Werkschöpfung gemacht. Die dabei entstehende Transformation seiner Arbeiten stimuliert die Sinne seiner Betrachter*innen und löst ein vielschichtiges Spektrum verschiedenster Emotionen aus.

So kriecht bei der Arbeit Tank 1, 2020, der Atem der Kunststoffmaske, welche einst ein Tank war, bis in jede Pore, breitet sich der Benzingeruch in jeden Winkel des Ausstellungsraums, setzt sich fest in Haaren, Kleidung, Erinnerungen. Die Maske als Schutz, als Illusion, als Barriere. Das Phänomen der Pareidolie, welches uns Menschen das Gesicht in Dingen erkennen lässt, vereint sich mit dem mechanischem Atmen des Objekts zu einem zeitgenössischen Deus Ex Machina, unheimlich und bewegend zugleich.

Die Arbeiten von Thomas Kratz, *1972 in Deutschland, Studium an der Hochschule für Gestaltung ZKM in Karlsruhe, an der Akademie der Bildenden Künste in München und am Royal College of Art in London, widmen sich Reflektionen zur Haut und menschlicher Oberfläche. In der Verschmelzung von Interaktion mit Material und Farbe sowie dem thematischen Schwerpunkt des Sujets reichen seine künstlerischen Referenzen bis zu den Meistern der Renaissance, ohne dabei zeitgenössische politische und gesellschaftliche Tradierungen von Sprache und Deutungshoheit aus dem Blick zu verlieren. Was als Serie über Erotik und Verletzlichkeit begann, entwickelte sich so im Verlauf der Jahre zu einer kulturgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Dokumentation über Hauttöne und deren Bedeutungen – die verletzliche Hülle als Reflektionssoberfläche.

Verbunden durch ein gemeinsames Studium sowie eine langjährige Freundschaft begeben sich Kratz und Sailstorfer in den Räumen des SMAC auf eine Suche nach der Membran als Element zwischen Trennung und Verbindung, Anfang und Ende, Schutz und Durchlässigkeit, Vollkommenheit im Unvollkommenen.

Ihre Malereien und Skulpturen umkreisen das Spektrum von zwischenmenschlichen Spannungen, der Verletzlichkeit der menschlichen Hülle und der Schwere, welche sich hinter Masken verbirgt.


Ausstellung: Love
Thomas Kratz
Ort: Kunstverein Bielefeld
*PDF download, 953 KB

24.8.- 4.11.2012

Text: Thomas Thiel

deutsch / english

Bielefelder Kunstverein Thomas Kratz Solo Show Text Thomas Thiel

Titel: Sinn-Amputation
Thomas Kratz
art Magazin
*PDF download, 942 KB

2013

Text: Gesine Borcherdt

art Magazin Gesine Borcherdt Text Thomas Kratz 2013

EXH: Strawberry Camouflage
location: ICA London

2008

Text by Richard Birkett


In many respects, the work of Thomas Kratz (born Waiblingen, 1972, lives in London) de es summation. Kratz operates across a variety of media, and his approaches can appear cyclical - not necessarily generating an ordered structure but one in which reoccurring facets are placed alongside one another across spaces, exhibitions and works.

Kratz has an interest in the early twentieth-century Portuguese poet Fernando Pessoa, who devised a means of writing from multiple points of view. These different identities are heteronyms - rather than simple ‘nom de plumes’ - as he gave them distinct characters, each with its own biography and physical characteristics. Kratz does not go so far as to nominate plural identities from which his work emanates, yet his approach to making art is founded on a set of positions, each with clear material and conceptual characteristics.

Kratz’s performance for the ICA, entitled Strawberry Camou age (2008), contains within
it actions, objects and fetishes that have appeared in various incarnations in his previous works. The processes at play link back to the artist’s 2006 performance How I Explain Pictures to a Dead Hare, an action reprising Joseph Beuys’ iconic 1965 performance How to Explain Pictures to a Dead Hare. The piece by Kratz - like that by Beuys - involved the artist moving through a gallery whispering to the eponymous animal, his face plastered in honey and gold leaf.

However, Kratz’s version also contained signi cant departures from the Beuys original. The audience watched from behind glass doors, with the artist’s whisperings relayed to them via loudspeaker; and the ‘pictures’ at the centre of narrative were absent (a poster detailed the list of imaginary works to which the artist referred). Joining Kratz were two surreal additions to the Beuysian score - an exercise bike, and a small robot singing Daisy Daisy. The artist rede ned Beuys’ material - based shamanism through theatre and arti ce, using the iconography of the original performance as the basis of a new ritual. Objects, both constructed and pre-existing, are reincarnated throughout Kratz’s work. Bicycles appear frequently: propped against the gallery wall, as if offering a means of escape; or leant against a set of glass doors, preventing entry to the gallery beyond. The layering of such elements creates a ritualistic ampli cation, taken to the point of overload, and Strawberry Camou age forms an almost perverse extension of How I Explain Pictures..., with Kratz ‘in communion’ with a hybrid hare/android  gure in garish Beuysian garb.

Kratz’ action, however, is also a poised, aesthetic composition that revels in the communicative possibilities of an archive of objects and gestures. This style of identity formation - drawing on sources that range from visceral painting to re ned architecture - is recurrent throughout the artist’s work, often highlighting the false constructions that commonly occur within art and exhibi- tions. Kratz creates a language of objects and gestures that is highly diverse, but which in total speaks of the contingencies and rituals of art.

Ausstellung: Na Vidraça Há O Ruído Do Diverso, 2007
mit Hugo Canoilas und Jannis Varelas
Ort: Fundacao Carmona e Costa, Lissabon

2007

Text: Thomas Knoefel


Ich bin imstand, wie das Universum plural zu sein.
Fernando Pessoa – eine Annäherung

Pessoa: das Phantom. Er erfindet sich mehrfach, veräußert, verflüchtigt sich in die Vielfalt verschiedener Personen, füllt Biografien aus, wie sie disparater nicht sein könnten. Wenn es um sein Leben geht, kann er keine zusammenhängende Geschichte erzählen – mehr noch: Sein Leben bleibt leer. „Wir sind zwei Abgründe“, schreibt er „ – ein Brunnen, der in den Himmel schaut.“ Er ist jedermann und niemand zugleich. Ein Nichtjemand, Traumwandler, Unberührbarer, ein ganz und gar Unscheinbarer... Marionettenhaft glaubt er an Fäden zu hängen, wie von fremder Hand gespielt... Körper und Gesten verselbstständigen sich und die Worte, Sätze kommen ungewollt, automatisch. Sein Leben setzt sich zusammen aus einem Chor unsichtbarer Geister, die, wenn sie hervortreten und laut werden, in eigener Sprache und Sache sprechen. Eingesperrt in fremden Schicksalen, lebt er das Leben von anderen; ein Medium für Empfindungen und Gedanken, die nicht ihm gehören. Täglich aufs Neue findet er sich wieder in einer Inszenierung, um nicht zu wissen, wer der Regisseur dieses Spektakels ist. Pessoa folgt einem unbekannten Skript, ohne in die Ordnung der Dinge, ins Geschehen eingreifen zu können. Er steht allein, am Rand, vor der Kulisse, der Bühne und wohnt sich bei, als leidenschaftsloser Voyeur: den Karrieren und Grabreden, den Dramen und kleinen Albernheiten, dem Sterben und täglichen Gang ins Büro. Schauspieler in einem Film, der kein Ende hat... Der Traum, der das Leben ist, bleibt ohne Ausgang.

Allen Fluchten zum Trotz, nimmt ihn das Leben als Geißel, schleift ihn durch die Zeit, verbraucht seinen Körper, ermüdet die Sinne. Noch die kleinsten Dinge, das Banale, Gewöhnliche greifen ihn an, beschädigen die Nerven. Und vor allem: Jedes Gefühl ist zu viel. Er weiß: Eine Überdosis selbst simpelsten Glücks wäre sein Ende. Ein Zuviel an Intensität und er wird paralytisch, verfällt in einfachste Automatismen. Nur solange das Leben ihn mit Mangel beschenkt, mit Trauer versorgt, mit Versagung, ist es auszuhalten. Und so frequentiert Pessoa die leeren Stuben, die „Vorzimmer der Gefühle“, wo nichts entschieden und alles noch in der Schwebe, ein Versprechen ist... Allein in den Missverständnissen, im Verkennen, verstehen wir uns und dürfen die Dinge sehen, wie sie uns zu Gefallen sind. Pessoa findet zu keinen Sinnsträngen, die seinem Handeln Halt und Richtung geben. Nichts in seinem Leben will zur Bedeutsamkeit aufsteigen – jeder Sinn verglüht unter der großen Sonne Vergeblichkeit. Die Luzidität seiner Analysen, die Schärfe seines Denkens seziert, zerlegt den dicken, runden Fleischklops „Illusion“. Wie aber lebt man ohne Illusionen? Und weil die Illusion ein Mindestmaß Kraft fordert, ohne die man nicht leugnen, den Schein produzieren kann, bleibt ihm nur der luzide, der trostlose Blick. Und immer sieht Pessoa mehr, als er sehen will. Den Gemeinplätzen unserer lebensdienlichen Konstrukte geht er aus dem Weg, und die Versprechen, Lockungen des Kollektivs sind sein Schrecken. Und selbst die ganze Weite des Universums wird ihm zur Falle, weil er nirgendwo ankommt. Seine Ernüchterungen treiben Pessoa zum Äußersten: in die Kulissen, Staffagen, in die Dekorationen einer vom Leben abgewandten Welt... eine Welt der Halbschatten, der anhaltenden Dämmerung, der Farben ohne Kraft, der blassen, durchsichtigen, träge vor sich hintreibenden Wolken... Mangel, Abwesenheit, Leere: die Identität einer Unperson. Pessoa existiert, indem er aufhört zu sein, aufhört, Eigenarten und Begehren aufrechtzuerhalten. Er dehnt sich aus nach Belieben, kann sämtliche Positionen vertreten, alle Meinungen in sich einlassen, annehmen, verkörpern, in jeder Rolle, die man ihm zuweist, überzeugend sein.

Seine inneren Landschaften sind voller fremder, abgelegener Orte, in denen er für ein Gastspiel anhält, bevor er weiterzieht. Ein Passagier ohne Ziel, fortwährend unterwegs, auf einer Reise, die nie über ihn selbst hinausführt und doch an die Grenzen seiner Welt. Er überlässt sich dem Zauber des Flüchtigen. Nichts kann er festhalten, nicht einmal seine Erinnerungen. Wie aber könnte er sicher sein zu leben, wenn ihm die Erinnerung fehlt, an das, was er war? (Die Lücken im Bewusstsein füllt er mit den Erinnerungen von anderen.) Er wird der äußeren Welt nicht habhaft, bleibt nicht haften, ohne Halt. Ein Vorübergehender, ein Passant, Voyageur... unterwegs ohne Eile, ohne Antrieb, ohne Ziel. Ein Eremit inmitten urbanen Getriebes, der Massen, des Gedränges, des Lärms. Eines dieser Gesichter der Menge, von niemandem erkannt, erinnert. Den Menschen findet er in flüchtigen Blicken und Bekanntschaften. Im Strom der Passanten: Die auf Lichtjahre getrennten Körper... ein beiläufiger Gruß... belanglose Worte unter Fremden. Die Gestalten der Straße sind für Pessoa Elemente einer Landschaft, und lebendig wie eine Romanfigur, so wie er selbst der Erzählung eines unbekannten Autors entliehen sein könnte. Aus der Menschenferne wirft er den Blick auf das, was ist. Und das, was ist, ist das, was er sieht. Pessoa outet sich als ein Liebhaber der reinen Betrachtung, als Voyeur, bleibt anonym, mit seinem Begehren auf weite Distanz zum Objekt, im Bann des Äußeren. Er legt nicht mehr in die Dinge, die Menschen hinein, als sichtbar sich anbietet, dem Auge entgegenkommt; sie sind immer schon das, was sie vorgeben zu sein: eine Oberfläche voller Zeichen, ein Text, den man liest, ohne zu verstehen... Und wenn wir lieben, argumentiert er, lieben wir diese Oberfläche, weil wir kein Organ für die Tiefe haben, mit der wir sie ausloten könnten.

Allein die körperliche Präsenz der anderen, die beiläufig geführten Gespräche überwältigen Pessoa, blockieren sein Denken und ermüden ihn. Insbesondere die Dramen der Liebe erfordern eine Anstrengung, der seine Neurasthenie nicht standhalten kann. Die Liebe belädt eine schon schwierige, schwertragende Existenz immer noch weiter, so dass sie schlussendlich untergeht. Für die Romantiker unter uns weiß er Rat: „Die Frau ist eine gute Quelle für Träume. Berühre sie nie!“ Er habe nur verlangt, dass die Liebe nicht aufhören soll „ein ferner Traum zu sein“. Der andere in seiner Nacktheit wäre für ihn, Pessoa, eine Zumutung, ein allein durch Illusionen maskierbarer Kadaver der Zeit. Das Objekt seiner Liebe würde sich erschöpfen, schwach werden und altern, wenn er sich ihm nur näherte. Die Liebe muss enttäuschen, weil sie nicht hält, was sie am Anfang verspricht: Dauer. Die Liebe als Vorstellung aber bleibt frisch. Zur Liebe von Angesicht zu Angesicht findet er kein intimes Verhältnis. Der andere entzieht sich, wird unerreichbar, Projektion. Ob Rührstück oder Drama: Für Pessoa ist Liebe ein absurdes Stück, gespielt von wechselnden Akteuren, eine Inszenierung inmitten von Kulissen, die man schieben, verdunkeln, beleuchten, austauschen kann... „Ich bin immer Schauspieler gewesen“, gesteht er, „und das wahrhaftig. Immer, wenn ich geliebt habe, habe ich fingiert, habe fingiert, dass ich liebe, und für mich selber fingiere ich.“ Und so schreibt der Schauspieler Pessoa einmal an die Adresse seiner einzigen und lebenslangen Versuchung: „... ich hatte Dich nur darum gebeten, diese Zärtlichkeiten zu fingieren, einiges Interesse für mich zu simulieren.“ Die Liebe, muss man annehmen, fürchtet dieser Dichter mehr als jeden anderen Dämon.

Von der „Trägheit des Herzens“ befallen, dieser allgemeinen Verstimmung und Eintrübung, die einsetzen, wenn der Raum, der Abstand zu den „Göttern“ (mit denen er intimer ist als mit dem christlichen Erlöser) unüberbrückbar weit erscheint, träumt sich Pessoa durch die Eintönigkeit der Tage. Der Überdruss Pessoas folgt sich nicht allein dem, was ist oder war, er richtet sich ebenso auf das, was möglich wäre, auf unsere Welt und alle denkbar anderen. Pessoa ist müde. Alles ist ermüdend: das Fühlen, das Denken, das Handeln. Seine Müdigkeit erfasst selbst Verzweiflung und Trauer und löscht sie aus. Man müsste sein Leben zurücknehmen können, bis: vor die Geburt. Nicht einfach aufhören zu existieren – sondern niemals geboren zu sein! Doch will und kann er nicht wählen zwischen Leben und Tod, weil dieser Akt in seinem lethargischen Wesen keine Resonanz fände. Seine Handlungen versinken in Monotonie, noch bevor sie im Licht des Besonderen, Bedeutungsvollen leuchten. In der Eintönigkeit aber, in den Dämmerstunden, im Halbbewussten seiner Träume findet Pessoa Linderung, bleibt er vor sich wie vor den anderen verborgen. Er findet Linderung mit dem ersten Licht der Laternen, der anbrechenden Nacht und ihrer abstrakten Ordnung der Himmelskörper – ausgestreut wie unverständliche Chiffren, abstrakt und fern wie die Passanten der Straße... Seine Leiden sind leise, von ausgesuchter Höflichkeit. Ein Schweben, etwas fast Schwereloses liegt in seinem Gang. Er wirkt anämisch, blass, transparent – ein Gespenst in den Straßen von Lissabon... (Ein Mann, der in seiner Unscheinbarkeit wenig Blicke auf sich zieht: von fragilem Körperbau, kurzsichtig mit dicken Gläsern im Gesicht, meistens unterwegs mit Hut und zerknittertem Mantel.) Pessoa ist durchlässig für alles, was ihm begegnet, vulnerabel für die Affekte der anderen, für das späte Licht, die überflüssigen Sonnenaufgänge, den Lärm der Gassen, den Geruch reifen Obstes, das metallisch-scharfe Schrillen der Straßenbahn... all das dringt ein, füllt ihn aus und vergeht. Man sagt, er leide an Depersonalisation; diese aber setzt schon Entscheidendes voraus: ein Jemand zu sein. Hinter den Masken des Fernando Pessoa jedoch verbirgt sich: niemand. In den Exzessen seiner Vermehrung, der Parade seiner multiplen Personen wird er zum Mysterium ohne Geheimnis. Er entgeht sich, entkommt ins Unpersönliche; ist der Mittelpunkt einer nicht existierenden Welt, das leere Zentrum, um welches die Dinge, seine Vorstellungen kreisen. Ich bin, klagt Pessoa, ein Mensch ohne Wille, ohne Verlagen, ohne Gefühl – das personifizierte „Nichts“ in einer Leere, die einem farblosen Himmel gleicht.

Pessoa sieht sich als männlichen Hysteriker (einen „nach innen gekehrten zerebralen Typ“), der seine Heteronyme produziert wie die „hysterische“ Frau Symptome. Bereits seine Kindheit ist bevölkert von „unwirklichen Gestalten“, unter denen er sich wie selbstverständlich bewegt... in einem „Jenseits des Wirklichen“, belebter, lebendiger, als das Wirkliche für ihn je hätte sein können. (Macht man aus einer unwirklichen Welt eine realere, indem man die Dinge fingiert?) Mit seinem inneren Leben entkommt er dem äußeren. In seinen imaginären Freunden sucht er ein Gegenüber, das er aushalten, über das er sich spiegeln und mitteilen kann. Indem er die Geschichte der anderen, seiner Heteronyme erfindet, werden diese sichtbar, konsistent. Pessoa kann sie hören, sehen, fühlen. Die Phantome besitzen Physiognomie, Figur, Kleidung, Gesten, Sprache... und in ihren Biografien treten sie plastischer, deutlicher hervor als Pessoa selbst. (Um ein Beispiel zu geben: Eines seiner Heteronyme, der Philosoph Mora, wird wegen Paranoia in eine psychiatrische Klink in der Nähe Lissabons eingewiesen; ein anderes: Alvaro de Campos scheint bisexuell und von
sadomasochistischen Neigungen getrieben.) Nicht einfach nur Metaboliten seines Stoffwechsels als Schriftsteller, bilden sie einen separaten Organismus, folgen ihren eigenen Ideen. Mit dem Heteronym Alberto Caeiro, so erzählt es Pessoa mehrfach, erscheint ihm, in einem „Akt von Ekstase“, unvermittelt sein „Meister“ und später dann dessen Schüler Ricardo Reis und Alvaro de Campos, die sich in Dialogen und Diskussionen erhitzen, abarbeiten, beflügeln... Seine Entitäten sind weder bescheiden noch zurückhaltend; sie geraten schon mal aneinander – in Polemiken und Disputen, geistvollen Rempeleien. Mit ihren Werken stehen sie sich unverwechselbar gegenüber, und natürlich reklamieren sie Autorenrechte. Aber auch das: Seine Geschöpfe gehen einfach über ihn hinweg, mischen sich ein, intervenieren bis ins Private; de Campos etwa trifft sich in Gestalt Pessoas mit dessen Dauer- Laison Opélia Queiroz und polemisiert gegen diesen: Er denunziert seinen Schöpfer, spottet, schreibt abwertende Briefe. Manche dieser Figuren werden über die Jahre undeutlich, andere treten umso schärfer hervor. Sie sind Teil eines Traumes, der zu wirklich ist, um nur ein Traum zu sein. Das Geträumte und das Wirkliche in ihrem Gemenge sind nicht zu entwirren. In seinen Traumfabriken agiert er wie ein autistischer Gott; süchtig nach Unterhaltung, spielt er mit seinen Träumen, schichtet sie übereinander, kreiert sie neu, wechselt die Perspektiven. Träumerisch nimmt er in Besitz, wovon das Leben ihn fernhält. Nur der Traum, glaubt Pessoa, gehört uns, im Traum gehören wir uns allein. Nur im Traum sind wir Macher, Unternehmer, Agenten. In seinen Träumen träumt er den Triumpf der Cäsaren, führt Armeen an und schläft in Palästen, im Bett der Monarchen. Er träumt mit offenen Augen, träumt sich durch die Gassen Lissabons, die Caféhäuser, öffentlichen Gärten, durch die schmalen Korridore, die Büroräume seines Alltags.

Das Schreiben exorziert, vertreibt seine Empfindungen, treibt sie aus dem Körper; statt zu fühlen, macht er Worte für die Erregungen und Leidenschaften, entleert sich, beruhigt den Sinn. Anstelle des Lebens tritt ein Text: aber um wie vieles reicher, zärtlicher, klarer, zeitloser, vollkommener als die gewöhnlichen Dinge unter der Sonne. Ein gefühlter Satz ist stärker als die Leidenschaft zum Objekt! Beim Schreiben kann Pessoa vergessen, wer er ist oder glaubt zu sein. In der Selbstvergessenheit des Schreibens lebt er auf. In der Sprache muss es keine Hoffnung geben und keinen Sinn. Er sieht die Sätze voraus, wie künftige Träume... Pessoa folgt seinen Inspirationen jenseits poetischer Programme und Strategien, schreibt ohne zu wissen warum, ohne Anstrengung, ohne Absicht, ohne Richtung... Er träumt, während er schreibt... ein chronisch müder, leicht vor sich hin fiebernder Schöpfer, der erschafft, ohne erschaffen zu wollen, und doch mit seinen Kreationen in Sympathie und Sehnsucht verbunden. Ein erschöpfter Demiurg, der keine Macht hat über sein Werk, über seine Schöpfungen, wie sie aus ihm heraustreten und sogleich ein Leben, eine Geschichte haben.

Pessoa lagert seine Empfindungen und Gegensätze, das Unvereinbare aus, verteilt auf verschiedene Personen... (Und selbst sein Grabstein wird einmal die Namen dreier weiterer Männer tragen.) Der Mensch ist kein Einzelner, in ihm sind viele Gestalten und Ansprüche zu Hause. Pessoa setzt sich zusammen, fällt auseinander, ist unfähig, die divergenten Kräfte seines Charakters in nur einem Bild zu komponieren. Ihn rettet keine Kontinuität von einem Tag zum anderen; er muss täglich sich neu erfinden. So bleibt das „Ich“

Annahme, Unterstellung, Konstruktion – ein Stückwerk mit Bruchstellen, fehlenden Teilen, Überschüssen, Defekten... Nicht, dass ihm sein „Ich“ verloren ginge – denn es gibt kein „Ich“, das man besitzen, über das man verfügen könnte. Und wer ohne Ich unterwegs ist, ist überall und nirgends... „Der Dichter ist ein Schwindler, der so perfekt schwindelt, dass er sogar jenen Schmerz erschwindelt, den er tatsächlich fühlt.“ Pessoa, der Dichter, sucht keinen Sinn, keine Metaphysik; weder Mystiker noch Philosoph, beruft sich er sich auf keine Mythologie, sehnt sich nach dem Tod ebenso wenig wie nach dem Leben. Die Halbwertzeit unserer Gewissheiten ist zu kurz, um Ideologien darauf zu bauen. Die Gedanken werden wieder dunkel, wirr, kaum dass wir ein wenig Klarheit fanden. Er weiß: Es gibt keine Lösung. Kein Geheimnis, das auszuleuchten, zu begreifen wäre. Keine Bestimmung, kein letztes Ziel. Pessoa ist mitleidlos, denn am Vergeblichen seiner Handlungen richtet man kein Mitleid auf, weder für sich noch für die anderen. Und die anderen, das sind die Objekte, denen wir unterstellen, eine Seele zu haben... das ist unser Nächster und Nachbar, ein Stück Fleisch, ähnlich dem, wie es in den Schaufenstern des Metzgers hängt. Wir werden sterben, ohne einander zu erkennen, werden aufhören zu atmen, ohne zu wissen, wer wir sind. Wir werden träumen wie eine Herde von Schläfern, die vergessen haben, dass sie existieren...
Als Dienstboten treten wir an, miserabel bezahlt, Laufburschen eines Schicksals, dessen Launen uns mal antreiben und dann wieder unvermittelt kollabieren lassen... Pessoa leidet leidenschaftslos, trostlos vor Überdruss, leidet wie eine Figur im Film, und all seine Schmerzen sind nur die Vorstellung von Schmerz. Aber er ist weniger (oder mehr) als nur ein Schauspieler oder Akteur, denn er wird gelebt, anstatt zu leben, wird gespielt und sieht diesem Spiel zu: inmitten von Belanglosigkeiten ein überflüssiger Mensch zu sein. Die Erregungen der Organismen kommen und gehen; aber selbst der verstörende Schmerz, eine heraufbrechende Panik sind für Pessoa nicht weniger ordinär, als ein alter, zersprungener Topf in der Ecke eines Balkons.

Pessoa ist schwach, melancholisch, müde, verwirrt, aber die Schwäche ist die Kraft, die sein Leben in Gang hält: Und so macht er weiter, allein, weil er nicht aufhören kann. Er kann nicht anhalten, aussteigen, beenden. Er bewegt sich im vegetativen Stadium eines undramatischen, schlichten Überlebens, ohne Resignation, ohne Glauben, ohne Verlangen, so als ginge man vom Wachsein in den Schlaf, vom Leben in den Tod, ohne es zu merken... Er weiß nicht, wie die Leiden sich anfühlen, die den Menschen klein machen und verbrauchen, weiß nichts über den Schmerz, der sich ins Gedächtnis brennt wie eine unsichtbare, nicht zu löschende Tätowierung. Pessoa will nicht wählen, nicht handeln, nicht fühlen; für immer würde er, wäre das möglich, am Fenster desselben möblierten Zimmers stehen wollen, mit Blick auf die Hinterhöfe und Straßen, den Verkehr, das geschäftige Treiben. Für ihn gibt ein keine besseren Orte, bevorzugten Plätze – von jedem aus erschließt sich die Welt ganz und gleich. Und nichts wäre wichtig genug, um es erreichen zu wollen. Was immer er anfängt, zerfällt unter seinen Händen: Er sieht die Trennung im Moment der Zusammenkunft, die Enttäuschung am höchsten Punkt der Hoffnung, den Zerfall im Prozess des Aufbaus.

Nicht das Glück sucht Pessoa, nicht Erfüllung, sondern allein den Schlaf... schlafen, träumen, nicht aufhören zu träumen... Die Insomnie macht noch aus jedem, selbst dem einfachsten Charakter, einen Märtyrer, einen Amokläufer, einen Christus. Wer nicht schläft, wird zum Athleten des Leidens, weil er nicht vergessen kann... unter dem kalten, fernen Licht der Sterne, ausgeliefert den Nachtwachen eines nicht enden wollenden Bewusstseins...

1 Angel Crespo, La Vida Plural de Fern a ndo Pessoa, Barcelona, Editorial Seix Barral, 1988,
2 Fernando Pessoa / Bernardo Soares, Livro do Desassossego, Lisboa, Assirio & Ahlim, 1998 p. 54.
3 Fernando Pessoa / Bernardo Soares, idem, p, 68.
4 Fernando Pessoa, Cartas de Amor, Lisboa, Edicoes Atica, 1978, p. 62.
5 Fernando Pessa, Correspond6ncia 1923-1935, Lisboa, Assirio & Alvim, 1999, p. 343.
6 Fernando Pessoa, Ficc6e5 do Interiudio, Lisboa, Assirio & Alvim, 1998, p. 94.

EXH: Na Vidraça Há O Ruído Do Diverso, 2007
with Hugo Canoilas and Jannis Varelas
location: Fundacao Carmona e Costa, Lissabon

2007

Text by Thomas Knoefel


Being plural like the Universe.
Fernando Pessoa – An approach

Pessoa: a ghost. He invents a multiple self, alienates himself, dissolves in the multiplicity of different persons, and fulfils the most diverse biographies. About his life, he is unable to tell a coherent story - and further: his life remains empty, “We are two abysses, “ he writes “a well gazing into the sky”(2). He simultaneously is everyone and nobody. A non-someone, an oneiric wanderer absolutely discreet...
Like a puppet, he believes himself suspended by strings, manipulated by an alien hand... Body and gestures become autonomous and the words, the phrases emerge involuntarily and automatically. His life composed by a chorus of invisible spirits, as it reveals and articulates itself they speak their own language and intentions. Imprisoned in alien fates, he lives the life of others; a meclium for feelings and thoughts that do not belong to him. He daily finds himself again on a stage without knowing who is directing the show. Pessoa follows an unknown script, unable to intervene in the flow of things, or in events. He is alone, on the margin, in front of the backstage, the stage and he sees himself as a dispassionate voyeur of careers and funereal prayers, of dramas and small mishaps, of dying and the daily visit to the office. An actor in an endless film... The dream of life is /eft without an exit.

Despite all the escape attempts, life holds him hostage, drags him through time, wears out his body, and tires his senses. Even the most insignificant, banal, usual things, attack him, ruin his nerves. Above all.- any feeling is too much. He knows: a lethal dose of even the simplest happiness will be deadly. One intensity too many and he will be paralysed, he slips into the easiest automatisms, Only when life rewards him with a lack, supports him with mourning, with denial, he holds on. Pessoa, therefore visits empty rooms, the “antechambers of emotions, “ where nothing is guaranteed and everything is still in the air is still just a promise...

Only in confusion, in ignorance, can one understand oneself and be able to see things to one’s satisfaction. Pessoa does not find chains of meaning to guide and direct his actions. Nothing in his life wishes to emerge into significance - all meaning burns up under the great sun of perdition. The lucidity of his analyses, the sharpness of his thinking dissects, dismembers the large round meatball of “illusion. “ But how does one live without illusions? And since illusion demands a minimum of effort without which denial, producing appearance is not possible, all that is left is a lucid gaze devoid of hope. And Pessoa always sees more than he wants to see. He avoids the commonplace of our constructions indentured to life and collective promises and attractions horrify him. And even the vastness of the universe is a trap for him because it goes nowhere. His disappointments push him to extremes: to the backstage and scenery, to the decorations of a world deviated from life... a world of darkness, of permanent twilight, of colours without strength, of pale and transparent clouds that go by indolently...

Lack, absence, void: the identity of a non-person, Pessoa exists by ceasing to be, by ceasing to maintain characteristics and desires. He spreads out (dilates) to his satisfaction, he can defend all positions, integrate, accept, incarnate all opinions, be convincing in any role assigned to him. His inner landscapes are replete with strange remote places where he stops for a brief representation before continuing the journey. A traveller without purpose: permanently on his way, on a journey that never takes him beyond himself and yet reaches the ends of his world. He surrenders to the spell of the furtive. He holds onto nothing, not even his own memories. How can he be sure of living if he lacks even the memory of what he was? (He fills the gaps in his consciousness with the recollections of others). He does not appropriate the outside world, he does not cling to anything, he lives without support. A passer-by, a wanderer a traveller ... on his way, with no rush, no stimulus, no aim. A hermit in the midst of the urban buzz, the masses, the crowd, the racket. One of those faces among many, neither recognised nor remembered by anyone. He finds the human being in furtive glances and acquaintances. In the flow of the passers-by: the bodies separated by light years... an accidental greeting ... insignificant words shared by strangers. For Pessoa, the faces on the street are elements in a landscape that are alive like characters in a novel, just as he might have been requisitioned into the tale of an unknown author Alienated from mankind, he casts his own gaze over what is. And, ‘what there is’is what he sees. Pessoa is revealed as someone who loves pure contemplation, as a voyeur he remains anonymous, with his desires at a great distance from the object, enchanted by appearances. He does not project into things or people more than the visible, than that which is offered to the eye; they are already what they intend to be: a surface full of signs, a text that is read without being understood ... And, he argues, when we love it is this surface that we love since we have no organ with which we can probe depths.

On the other hand, the physical presence of others, casual conversations overwhelm Pessoa, they block his thinking and exhaust him. The dramas of love, in particular, demand an effort his neurasthenia cannot bear Love overburdens an existence that is already difficult, rendering it even heavier so that it eventually drowns. For the romantics among us he has the following advice: ‘A woman is a good source for dreams. Never touch her!” All he would have asked was that love should not cease to be “a far away dream”(3). The nudity of the other would be impertinent for Pessoa, a corpse of time, only to be masked by illusions. The object of his love would be exhausted, would weaken and age, as soon as approached. Love has to deceive because it does not fulfil its promise of duration. However love, as imagination remains fresh. In face-to-face love he does not find an intimate relationship. The other is overturned, becomes inaccessible, a projection. Dramatics or drama: for Pessoa, love is an absurd play enacted by alternating actors, a production in the midst of backstage scenery that can be removed, darkened, lit up, changed. He was always an actor and a sincere one. Every time he loved, he pretended, he pretended to love and even pretended to himself And, thus, Pessoa, the actor once wrote to his sole lifetime temptation: “ But / only ask that you fake those caresses, that you simulate some interest in me. “ This poet, we are led to presume, fears love more than any other demon.

Attacked by the indolence of the heart, of this general indisposition and this darkness that start when the space, the distance to the “gods” (with whom he is more intimate than with Christian saviour), seems unbearably far Pessoa bears the monotony of the days dreaming. Pessoa’s boredom is not just about what is or what was, it also indicates what might be possible, not only in our world but in all other thinkable ones. Pessoa is tired. Everything tires him: feeling, thinking, acting. His weariness even latches onto to despair and mouming and extinguishes them. It would be necessary to revoke his life even before he was bom. Not just ceasing to exist - but never having been bom! However he neither wishes to nor is able to choose between life and death, because this act would find no resonance in his lethargic being. His actions sink into monotony even before they shine in the light of singularity, of significance. In monotony, however, in the twilight hours, in the semi-consciousness of his dreams, Pessoa finds relief, he is hidden from himself and from others. He finds relief with the first light of the lamps, with nightfall and its abstract order of celestial bodies - disseminated like incomprehensible numbers, abstract and remote like the passers-by on the street...
His suffering is silent, exclusively delicate. There is an almost unthinkable hovering in his steps. He seems anaemic, pale, transparent - a ghost on the streets of Lisbon. (A man who attract few glances thanks to his modesty; frail body, near sighted with thick glasses on his face, often on his way with a hat and a wrinkled trench coat). Pessoa is permeable to everything he finds, vulnerable to the affects of others, to late light, to superfluous sunrises, to the noise of the alleys, to the smell of ripe fruit, to the acute metallic squealing of the tram, everything penetrates him, fills him up and disappears. They say he suffers from depersonalization, this however presupposes some decisiveness: being someone. Behind Pessoa’s masks however, no one is hiding. The excesses of his multiplication, the parade of his multiple personas transform him into a mystery without secret. He escapes from himself, escapes into the impersonal; he is the centre of an inexistent world, the empty centre, around which things and his imagination circulate. Pessoa complains of being a man without a will, without desire, without emotion - “nothing” personified in a void that resembles a colourless sky.

Pessoa sees himself as a masculine hysteric (a cerebral typelguy, inward facing), who produces his heteronyms like a hysterical woman produces her syndromes. Even his childhood was populated by “unreal figures”, amongst whom he moves naturally.... in a place “beyond the real”, livelier, more alive than the real could ever have been for him. (is it possible to construct a more real world from an unreal one, by pretending?) He escapes his outer life with his inner life. In his imaginary friends he seeks an other he can bear one he can reflect upon and communicate with. By inventing the stories of the others, his heteronytns, these become visible, consistent. Pessoa can hear them, see them, and feel them. The ghosts have faces, figures, dresses, gestures, language, and in their biographies they stand out with a greater profile and definition than Pessoa. (As an example: one of his heteronyms, Mora the philosopher is institutionalised in a psychiatric ward on the outskirts of Lisbon due to paranoia; another one, Alvaro de Campos, seems to be bisexual and driven by Sado-masochistic tendencies). They are not mere extensions of his own metabolism as a writer,- they constitute a separate organism, the follow their own ideas. Pessoa describes on several occasions that the Alberto Caeiro heteronym appears to him in a “type of ecstasy”(5), immediately, the “master appears, followed later by his disciples, Ricardo Reis and Alvaro Campos. They get excited, wear themselves out, and are enlivened by dialogues and discussions. His entities are neither modest nor reserved,- at times they get serious - into polemics and disputes, spirited shoving around. They unmistakably confront each other with their works and naturally demand their copyright. But also: his creatures overtake him, interfere, and even meddle in the private realm. Campos, for example, meets, as Pessoa with the latter’s permanent relationship, Ophelia Queiroz, and argues against him. He demounces his creator mocks him, and writes defamatory letters. Some of these figures become less defined over the years, others clearly stand out. They are part of a dream that is too real to be just a dream. The oneiric and the real are not separable in his blend. In his factories of dream he acts like an autistic god; addicted to fun, he plays with his dreams, stratifies them, creates new ones, and changes perspective. in the dream he takes ownership of everything in life that keeps him away. Pessoa believes that only dreams belong to us, only in dreams do we belong to ourselves. We are instigators, entrepreneurs, and agents, only in dreams. In his dreams he dreams of the triumph of the Caesars, he guides armadas and sleeps in palaces, in the beds of monarchs. He dreams with his eyes open, he dreams through the alleys of Lisbon, the cafes, the public parks, through the narrow hallways of the office of his daily life.

Writing exorcises, expels his sensations, expels them from the body; instead of feeling, he produces words for his excitements and passions, he empties them and calms the senses. He replaces life with a text: but one that is much richer tender clear timeless, and perfect than the common things under the sun. A sentence that is felt is stronger than the passion for an object! When he writes, Pessoa can forget who he is or believes himself to be. By forgetting himself, he becomes animated. In language no hope or meaning are needed. He predicts the sentences like future dreams... Pessoa follows his inspirations beyond poetic programs and strategies, he writes without knowing why, without effort, without purpose, without direction... He dreams writing... a creator suffering from chronic fatigue and some fever who creates without wanting to create, and yet bound to his creations by sympathy and longing, An exhausted demiurge, that has no power over his work, over the creations that issue from him and immediately acquire a life and a history. Pessoa displaces his sensations and antagonisms, everything that is irreconcilable, distributing them to several people... (Even his tombstone will one day display the names of three other men). Human beings are not singular,- they accommodate many faces and demands.

Pessoa composes himself, fragments himself, is unable to combine the diverging forces of his character into a sole image. He does not save any continuity from one day to the next: he must daily reinvent himself anew. The “I” remains a hypothesis, supposition, construction - a fragmentary work with gaps, faults, leftovers, defects... It’s not that his “/” becomes lost, rather that there is no “/” he can possess or appropriate. And, whoever is one their way without an “/”, is everywhere and nowhere.

“The poet is a fakerl He fakes so completely / That he even fakes he is feeling it is painque finge com uma tal perfeiqjo,. que / The pain that he really feels. “(6) Pessoa, the poet does not seek meaning or metaphysics,- neither a mystic nor a philosopher he does not refer to any mythology, does not yearn neither for death nor life, The duration of the average value of our certainties is too brief for him to construct ideologies. The thoughts become dark again and confused once we have just found some clarity. He knows there is no solution, There is no secret that light must be shed upon or understood. No purpose or ultimate end. Pessoa is indifferent since compassion does not emerge in the futility of his actions, neither for himself nor for others. And the others are objects we presume have a soul... They are our peers and neighbours, a piece of flesh, similar to those hanging in the butchers’ windows. We will die without knowing being mutually acquainted; we shall cease to breathe without knowing who we are. We will dream like a flock of sleepers that have forgotten they exist... We come in as servants, miserably paid, destiny’s errand boys whose dispositions at times amuse us and others make us suddenly succumb... Pessoa suffers without passion, without consolation for boredom; he suffers like a character in a movie and all his pains are only the imagination of pain. But he is less (or more) than an actor or agent, because he is lived rather than alive, he is represented and attends the spectacle of being a superfluous man in the midst of futilities. The excitements of organisms come and go; but even a disturbing pain, a sudden panic are not less common for Pessoa than an old broken vase in the comer of a balcony, Pessoa is weak, melancholic, tired, confused, but the weakness is the strength that keeps him alive: and thus he continues, only because he cannot finish. He cannot stop, exit, terminate. He moves in the vegetative state of a simple, devoid of drama survival, without resignation, belief, desire, like when one passes from vigil to slumber from death to life, without noticing... He does not know the feeling of suffering that renders the human being small, that wears him out, he knows nothing of pain that inscribes itself in memory through fire like an invisible and indelible tattoo. Pessoa does not wish to choose, act, feel,, if it were possible he would remain forever at the window of the same rented room with a view of the inner patios, the streets, the traffic, the bustle. There aren’t any better places or favourite squares for him - life blooms from them all in the same manner And nothing is so important for him to want to reach it. Whatever he begins, dissolves in his hands... He sees separation at the moment of encounter, deception at the highest point of hope, things crumbling down in the moment of construction.

Pessoa does not seek happiness, fulfilment, only sleep... to sleep, to dream, to never stop dreaming. Insomnia transforms into a martyr, a fugitive, into a Christ, even the most simple of characters. He who does not sleep becomes an athlete of suffering, because he can not forget... underneath the cold light of the distant stars, forsaken to vigils of a conscience that does not wish to end...


1 Angel Crespo, La Vida Plural de Fern a ndo Pessoa, Barcelona, Editorial Seix Barral, 1988,
2 Fernando Pessoa / Bernardo Soares, Livro do Desassossego, Lisboa, Assirio & Ahlim, 1998 p. 54.
3 Fernando Pessoa / Bernardo Soares, idem, p, 68.
4 Fernando Pessoa, Cartas de Amor, Lisboa, Edicoes Atica, 1978, p. 62.
5 Fernando Pessa, Correspond6ncia 1923-1935, Lisboa, Assirio & Alvim, 1999, p. 343.
6 Fernando Pessoa, Ficc6e5 do Interiudio, Lisboa, Assirio & Alvim, 1998, p. 94.

Joseph Beuys Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt Thomas Kratz Lissabon Lisboa 2006
EXH: Wie ich dem toten Hasen die Bilder erkläre
location:
location: Véra Côrtes, Lissbon

15/3/06 - 31/3/06

Text: Margit Rosen


Wie ich dem toten Hasen die Bilder erkläre

Retrospektiv scheinen die Performances der 1960er gemacht, um in einem Schwarzweiss-Bild zu enden. Eine dieser Fotografien hat sich in das kollektive Gedächtnis der Kunstwelt eingebrannt, wie kaum ein anderes: Joseph Beuys, das Gesicht mit Honig, Goldstaub und Blattgold verklebt, hält auf seinem Arm einen toten Hasen. Unter dem Titel „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ war Beuys am 26. November 1965 in der Düsseldorfer Galerie Schmela drei Stunden lang mit dem Hasen von Kunstobjekt zu Kunstobjekt geschritten, auf den Hasen einflüsternd.


Unter dem Titel „Wie ich dem toten Hasen die Bilder erkläre.“ wird der in London lebende Künstler Thomas Kratz die Schlüsselperformance der 1960er Jahre wieder durchführen. Er transformiert die fotografischen Spuren und Augenzeugenschilderungen der Beuys-Performance wieder in ein körperlich-räumliches Ritual, das nun jedoch auf einen veränderten örtlichen und zeitlichen Kontext trifft. Auf diese Weise überprüft er die von Beuys entworfene Versuchsanordnung auf ihre heutige Wirkung, sowohl auf sich selbst als auch das Publikum. Die Beuys-Performance, die das Imaginäre der Kunstwelt in so hohem Maße geprägt hat, wird hier wie eine Tarnung verwendet. Zunächst den Eindruck des Vertrauten erzeugend, schleust Kratz eine neue differenzierte lyrische Metapherologie zwischen Tragik und Humor ein, die sich den großen anthropologischen Fragen nach Leben, Tod und Wiedergeburt widmet. Kratz platziert sich und das Publikum im Spannungsfeld zwischen den Erinnerungsbildern und der unmittelbaren Erfahrung. In der Wahl der Mittel folgt er Überlegungen von Jorge Luis Borges: „Ich gebrauche die abgegriffensten Metaphern. Das ist es im Grunde, was ewig ist: die Sterne sehen aus wie Augen, zum Beispiel, oder der Tod ist wie der Schlaf.“ Das Vertraute ist das Tor zum Neuen, das Werk eines anderen Künstlers das Tor zum eigenen Werk.


Das Überindividuell-Kulturelle ist die Bedingung partikularer Erfahrung, das Archiv die Bedingung aktueller Kunst. Kratz analysiert mit dieser Performance nicht die Ikone Beuys, sondern das Ritual, das er im Sinne einer festgelegten Handlungs-Form versteht, deren Wirksamkeit sich nur im aktuellen Vollzug erweist und deren Ursprünge zu verschwimmen beginnen. Er rekonstruiert die Rahmenbedingungen nicht nur, sondern passt sie den Bedingungen der Gegenwart und seiner Ästhetik an. Der Versuchsaufbau in dem sich das Ritual abspielen wird, ähnelt der Performance von 1965 weit gehend: Das Publikum ist vom Künstler räumlich getrennt und kann ihn nur durch zwei Türfenster beobachten. Kratz bewegt sich im angrenzenden Raum: einen toten Hasen im Arm, das Gesicht mit Honig und Blattgold bedeckt, in einem von der Designerin Lara Torres gestalteten Beuys-Dress gekleidet. In diesem Raum befindet sich ein Hometrainer sowie ein kleiner Roboter, der das Lied „Daisy (Bicycle Made for Two)“ intoniert. Kratz erklärt dem Hasen eine imaginäre Sammlung. Die Künstler dieser Sammlung sind auf einem Plakat im Publikumsraum aufgelistet, in das die Erzählungen von Kratz auf Lautsprecher übertragen werden.


Das Beuyssche Motiv des Hasen als Symbol der Wiederauferstehung bezieht
sich im Ritual von Thomas Kratz auch auf Umgang mit dem kollektiven Imaginären der Kunst. Er definiert darüber hinaus neue Ritualgegenstände: Der Hometrainer, ein Objekt, dass in Alfred Jarrys „Pataphysik“ zum christlichen Marter- und Leidensgerät wurde und das Peter Blegvad als metaphysisches Objekt beschrieb, von dem wir glauben, dass dessen Nutzung die Distanz zum Tode verlängert. Der kleine Roboter singt mit „Daisy“ ein Lied, dass 1962 von den Bell Research Laboratories als eines der ersten Stücke mit computergenerierter Stimme erzeugt und 1968 in Stanley Kubricks „2001 Odyssey im Weltraum“ wieder verwendet wurde. Neben dem Hasen als Symbol für Fruchtbarkeit und Wiedergeburt platziert Kratz die Maschine als Artefakt, das mit wenigen einfachen Charakteristika jene menschliche Begierde befriedigt, in allem Lebensähnliches finden zu wollen. Sie singt dem Menschen und dem toten Hasen mitleidlos ein Liebeslied: "Daisy, Daisy / Give me your answer do! / I'm half crazy, / All for the love of you! / It won't be a stylish marriage, / I can't afford a carriage / But you'll look sweet upon the seat / Of a bicycle made for two.“


EXH: How to explain pictures to a dead hare
location: Véra Côrtes, Lissbon

15/3/06 - 31/3/06

Text: Margit Rosen


How to explain pictures to a dead hare

Looking back at performances of the 1960s they seem to have been made in order to end in a black and white picture. One of these photographs has entered the collective memory of the art world like hardly any other: Joseph Beuys, his face covered with honey, gold dust and gold leafs, carrying a dead hare in his harms. On November 26 1965, Beuys walked trough the Düsseldorf Gallery Schmela with a hare on his arm from art object to art object, whispering in its ears. The performance was entitled „How to explain pictures to a dead hare“.

With „How I explain pictures to a dead hare“ Thomas Kratz will re-enact this key performance of the 1960s. He transforms the photographic traces and eye-witnesses’ description into a bodily-spatial ritual, which yet meets now a changed local and temporal context. He thereby examines Beuys’ test arrangement for its present-day effects, which it may have on himself as well on the audience. The Beuys-Performance, which has influenced the art world’s imaginary so much, is used as a camouflage. By producing a familiar impression at first sight, Kratz infiltrates a new refined lyrical metapherology between tragic and humour, addressing the big anthropological questions about life, death and reincarnation. Kratz positions himself and the public in a conflicting area generated by the pictures from memory and the actual happening in the presence. In his choice of means the artist follows reflections by Jorge Luis Borges: „I use the most hackneyed metaphors. After all this is what is eternal: the stars look like eyes, f. e., or death is like the sleep.“ The familiar is the door to the new, the work of another artist the door to one’s own oeuvre. The meta-individual culture is the condition of the particular experience, the archive the condition of contemporary art.

Kratz does not analyze the iconic figure Joseph Beuys, but the ritual, which he conceives as a determined form of action. Its effectiveness is proven only in its execution and its sources begin to blur. He does not only reconstruct the framework, in which the ritual will take place, but adapts it to present-day’s conditions and his own aesthetics. The arrangement for the experiment resembles the 1965’s performance to a large degree: The public is separated from the artist and can watch him only through two door-windows. Kratz moves in the gallery room with a dead hare in his arms, the face covered with honey and gold leafs, dressed in a Beuys-alike-outfit created by the designer Lara Torres. Within the same room the room he installed an exercise bike and placed a little robot singing „Daisy (Bicycle Made for Two)”. Kratz explains an imaginary art collection to the hare. The artists of this collection are listed on a poster in the public’s space, where loud speakers transmit Kratz’s narrative.

Beuys’ use of the hare as a symbol of rebirth reflects in Thomas Kratz’s ritual also the use of the imaginary archive of art. For the ritual about life, dead and rebirth of art Kratz defines new ritual objects: the exercise bicycle and the singing robot. Alfred Jarry once described the bicycle as a Christian device of martyr and suffering, Peter Blegvad identified the exercise bike as a metaphysical object, which makes us believe, that its use increases the distance to death. The little robot sings with „Daisy“ a song, which was generated around 1962 by the American Bell Research Laboratories. It was one of the first pieces with computer-generated voice. Stanley Kubrick used it for his 1968 „2001 Space Odyssey“. Next to the hare, this symbol for fertility and rebirth, Kratz places the machine, an artefact, which satisfies by simple means the human desire to see something alive. The machine will sing for the human and the dead hare a merciless love song: „Daisy, Daisy / Give me your answer do! / I'm half crazy, / All for the love of you! / It won't be a stylish marriage, / I can't afford a carriage / But you'll look sweet upon the seat / Of a bicycle made for two.”


EXH: Sammlung Stegemann
location: Kunstraum, München

22/3/07 - 13/5/07


Text by Daniela Stöppel

press release


Sammlung Stegemann

Dauer der Ausstellung: 22. März bis 13. Mai 2007
Donnerstag bis Sonntag, 15 bis 19 Uhr

Am Freitag, den 23. März um 19 Uhr findet im kunstraum muenchen unter dem Titel "Ihre Welt, Ihre Fantasie" ein Künstlergespräch mit Thomas Kratz statt.

Gefördert durch die Landeshauptstadt München Kulturreferat, LfA Förderbank Bayern und das British Council. Mit freundlicher Unterstützung des LRZ München, des Siemens Arts Program, der Villa Stuck, des Instituts für Kunstgeschichte München, der Galerie Biedermann, Alfred Wigel, Erich Gantzert-Castrillo und Markus Dicklhuber.

Thomas Kratz (geb. 1972) ist Meisterschüler von Prof. Günther Förg und hat 2005 am Royal College of Art London mit einem Master of Painting abgeschlossen. Er lebt in London und zeigt im kunstraum seine erste Einzelausstellung.


"Darauf kommt es also an: das, was ist, sein zu lassen. Aber Seinlassen heißt nicht: das, was man schon weiß, nur wiederholen. Nicht in der Form eines Wiederholungserlebnisses, sondern durch die Begegnung selber bestimmt, läßt man das, was war, sein für den, der man ist."
Hans-Georg Gadamer (Die Aktualität des Schönen)

Die (Re-)Konstruktion einer privaten Kunstsammlung steht im Mittelpunkt der Ausstellung von Thomas Kratz im kunstraum muenchen. Die Auswahl verschiedener Kunstwerke, die einen ersten Teil der Sammlung konstituieren, ist auf einen möglichen Sammler zugeschnitten. Recherchen in Katalogen und Interviews zum Zeitraum zwischen 1986 und 2001 liefern Kratz die Kriterien für die Zusammenstellung der Werke, hinter denen er seine eigenen Interessen zurückstellt. Er verlegt somit die Entscheidungsinstanz auf einen Bereich außerhalb seines eigenen Handelns und agiert als Werkzeug, das sich vorübergehend in den Dienst eines anderen Individuums stellt. Die Vorarbeiten haben sich in der Erstellung einer Künstlerliste von ca. 25 Namen niedergeschlagen, aus der nun sieben Positionen für die erste Fassung der Sammlung im kunstraum muenchen zu sehen sind.

Ein biografischer Recherche-Ansatz ist zentral für die Arbeit von Thomas Kratz: Persönliche Wahrnehmung, Selektion, Erinnerung an Kunst ist immer an das Individuum gebunden. Indem Thomas Kratz auf diese individuelle Wahrnehmung von Kunst fokussiert und dafür die hoch persönliche und emotionalisierte Form der privaten Kunstsammlung als Ausstellungsformat wählt, stellt er die private Perspektive auf Kunst heraus und rekontextualisiert Kunst im Rahmen des Biografischen und Privaten.Die Logik der privaten Sammlung

Das persönliche Ordnungssystem der Privatsammlung spiegelt einen besonderen Umgang mit Kunst wieder, der sich in wesentlichen Gesichtspunkten von der öffentlichen Museumssammlung unterscheidet. Der Sammler fasziniert nicht nur aufgrund seiner Obsessionen und Leidenschaften, sondern auch durch sein finanzielle Potenz, seine Kennerschaft, sein persönliches ökonomisches Risiko und nicht zuletzt durch die Gefahr, seiner Sammelleidenschaft zu erliegen oder an seiner eigenen Vision zu scheitern. Eine bedingungslose Subjektivität scheint den Privatsammler auszuzeichnen. Der Sammler lässt sich seinem Objekt der Begierde gegenüber von persönlichen, mitunter irrationalen Vorlieben und einem individuellen Kunstverständnis leiten, während der Museumskurator "objektiven" kunsthistorischen Kriterien folgt. Die Subjektivität des Sammlers erscheint demgegenüber als Freiheit und Privileg und auch der Kunstsammlung als privatem Ort haftet die Aura des Besonderen, Außergewöhnlichen und Exklusiven an.

Der Umgang mit Kunstwerken in privaten Kunstsammlungen ist von der persönlichen Auffassung des Sammlers abhängig: Der Sammler hat Verfügungsgewalt über seinen Kunstbesitz, er kann mit wertvollen Gemälden und Skulpturen nach eigenem Ermessen umgehen. Die physische Entität des Kunstwerks kann er bewahren und absichern oder aber er integriert Kunstwerke als Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs in sein Leben und setzt sich über die allgemeine kulturelle Konvention, dass Kunst in ihrer Materialität geschützt und aufbewahrt werden muss (Boris Groys), hinweg. Selbst die Zerstörung von Kunstwerken ist in seiner Handlungsmacht mit einbegriffen.

Sammeln bedeutet damit auch: Verfügung, Gewalt, Aneignung, Macht, Besitz. Walter Benjamin schrieb über die Gefahr des Sammelns: "Es ist die tiefste Bezauberung des Sammlers, das Einzelne in einen Bannkreis einzuschließen, indem es, während ein letzter Schauer (der Schauer des Erworbenwerdens) darüber hinläuft, erstarrt. Alles Erinnerte, Gedachte, Bewusste wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluss seines Besitzers."Medialität und Medientransfer. Der von Benjamin beschriebenen Gefahr der Festschreibung und Fixierung von Kunstwerken durch die "Einverleibung" in eine Sammlung entgeht Thomas Kratz, indem er die Ausstellung als eine Art "snap shot" konzipiert - die als momentaner "Stand einer Sammlung" nur für kurze Zeit abgespeichert wird. Es ist die Sammlung als ein Zusammentreffen von Ideen, die ihn interessiert und der er sich über die Figur des Sammlers annähert.

Die Ausstellung ist in Form von Projektionen zusammengestellt, die temporär in den kunstraum per Live-Streaming übertragen werden. Die Bilder stammen teilweise von Originalen, teilweise von Nachbauten, die Thomas Kratz anlässlich der Ausstellung an unterschiedlichen Orten in München aufgebaut hat. Nach der Ausstellung zerstreuen sich die Werke wieder in alle Himmelsrichtungen, die nachgebauten Kunstobjekte werden zerstört. Dieses Vorgehen arbeitet der musealen Erstarrung entgegen und beugt der Gefahr vor, dass die Sammlung in ihrem steten "Kampf gegen die Zerstreuung" der Sammelobjekte in der Welt (Walter Benjamin), in ihrem Kampf gegen die Entropie, erstarrt. Dadurch, das Kratz die Rekonstruktionsidee des gesamten Projekts offen sichtbar zeigt, bleibt die Sammlung als gedankliches Konstrukt erkennbar. Die von Kratz angefertigten Nachbauten sind keine perfekten Kopien, sondern kursorische Re-enactments, die ihre Hilfsfunktion offen zeigen. Sie stehen im Dienst der Sammlung und der Idee der Sammlung.Ort, Ortlosigkeit, Rekontextualisierung Kunstwerke haben in der Regel einen Ort - ein Museum, eine Sammlung, ein Atelier -, an dem sie sich befinden und wo sie betrachtet werden können. Diese Materialität des Kunstwerks ist zugleich Fluch und Segen. Segen deshalb, weil seine physische Präsenz für das Kunstwerk einen auratischen Dimensionsgewinn bedeutet. Fluch deshalb, weil das Kunstwerk handelbar wird, der ideelle Wert hinter dem materiellen leicht zurücktritt und mit der Ortsgebundenheit von Kunst eine räumlich bedingte Limitierung des Zugangs unweigerlich verbunden ist.

Die Verfügbarkeit von Kunstwerken ist heute durch Reproduktionen und digitale Bildarchive nahezu grenzenlos - das Original mit seiner besonderen Aura des Präsenten wird dadurch aber nicht etwa unwichtig und entwertet, sondern im Gegenteil: das Original erfährt gerade in seiner Einzigartigkeit eine Aufwertung. Große Sonderausstellungen zeigen dies genauso wie viele museale Inszenierungen, die weniger auf Kontext, denn auf auratische Präsentation setzen.

Den Konflikt zwischen Aura des Originals und Auraverlust der Fotografie hat Walter Benjamin in seinem bekannten Kunstwerk-Aufsatz thematisiert. Davon beeinflusst ist auch Malraux' Idee des "muséé imaginaire", die er ab 1935 entwickelte. Sie zielte auf die Überwindung der materiellen Präsenz des Kunstwerks und - erstaunlicherweise - zugleich dessen Rekontextualisierung durch die fotografische Reproduktion ab. Sein "Musée imaginaire de la Sculpture Mondiale" versammelt in einem Fotoband die Abbildungen aller wichtigen Skulpturen der Weltkunst. Alle Bilder wurden formal egalisiert und zu einem großen Kompendium über die Weltskulptur zusammenstellt. Malraux' Anliegen war dabei, die Entkontextualisierung der Kunst durch das Museum, das ja eben auch nicht mit orginalen Entstehungszusammenhang gleichzusetzen ist, zu überwinden. Er sah die fotografische Reproduktion als mediales Vehikel für eine vergleichende Lektüre, für Bedeutungsgenerierung, die sich im Auge des Betrachters konstituiert. Sein Anliegen war, in seinem "musée imaginaire" Partizipation für jeden einzelnen zu ermöglichen, jeden an der Idee von Kunst teilnehmen zu lassen. Die virtuelle Präsenz im musée imaginaire führt in seinen Augen zu einer radikalen Befreiung der Kunst, da sie von ihrer materiellen Anwesenheit entbunden wird. Erst durch die Negation des Ortes, des Materials und der Substanz kann in seinen Augen die Kunst ihren reinen Ideengehalt freisetzen.

Thomas Kratz verwendet fotografische Vorlagen für seine Reinszenierungen, nach denen er die ausgewählten Installationen bildhaft komponiert und zusammenstellt. Die Reproduktionen entnimmt er Katalogen, die wie alle übrigen Reproduktionen ortsungebunden sind und frei fluktuieren können. Durch die Inszenierung der Kunstwerke an unterschiedlichen öffentlichen und privaten Orten in München wird die Ortlosigkeit des reproduzierten Kunstwerks aufgehoben, es erscheint rekontextualisiert, in soziale, institutionelle und private Prozesse eingebunden. Durch die Live-Übertragung bleiben die Bilder jedoch theoretisch von jedem Ort der Welt abrufbar. Ortsbezug und Ortlosigkeit fallen durch die Echtzeit-Projektionen in eins. Im Ausstellungsraum wiederum kommen die Bilder für die Dauer der Ausstellung zusammen, und kreieren einen Ort, der sich einerseits durch die beschriebene materielle Absenz von originalen Kunstwerken definiert, jedoch gleichzeitig durch die virtuelle Präsenz der Echtzeit-Übertragung einen eigenen auratischen Raum erzeugt. Kratz thematisiert also das Verhältnis von Aura und Auraverlust, Ort und Ortlosigkeit, ohne aber dies als strengen Gegensatz zu konstruieren.Eine Auswahl: Anselmo, Croissant, Finlay, Mantegna, Pascali, Pistoletto, Rieger
Die Auswahl der Kunstwerke basiert nicht auf Thomas Kratz eigenen Interessen, sondern gibt die Perspektive eines anderen auf Kunst wieder. Die Arte Povera ist dabei von zentraler Bedeutung, ebenso wie verschiedene Münchner Positionen.

Teil der Ausstellung ist unter anderem ein Re-enactment der „Lumpen-Venus“ des Arte-Povera-Künstlers Michelangelo Pistoletto (*1933, Biella/Italien) aus dem Jahr 1967. Die Skulptur wurde durch Thomas Kratz unter Einbeziehung eines historischen Venus-Abgusses der Villa Stuck vor einem Berg aus Altkleidern neu inszeniert. Das Original von Pistoletto war 1991 im Kunstverein München in einer wichtigen Arte-Povera-Ausstellung zu sehen, und ist nun Teil der fiktiven Kunstsammlung im kunstraum muenchen. Durch die Live-Übertragung der Ausstellungssituation in der Villa Stuck in den kunstraum muenchen werden der lokale Bezug der Venus zur Villa Stuck und deren räumliche und institutionelle Gegebenheiten in die Sammlung miteinbezogen.

Im Garten des Institut für Kunstgeschichte München hat Kratz weiter eine Installation des Künstlers Ian Hamilton Finlay (*1925, Nassau/Bahamas, +2006 Edinburgh/Schottland) nachgebaut. Finlays Original „Sacred Grove“von 1982 befindet sich im Skulpturengarten des Kröller-Müller Rijksmuseums in Otterlo, Holland und besteht aus verschiedenen Sockeln mit Säulenbasen, aus denen Bäume hervorwachsen - der Baumstamm transformiert sich in einen lebenden Säulenschaft, der eine organische Verbindung mit den klassisch-antiken Sockeln eingeht. Durch die Live-Übertragung in den kunstraum muenchen wird die Installation Finlays zum Bildzitat umgedeutet und zugleich die räumlichen und institutionellen Gegebenheiten des Institutsgarten mit einbezogen.

Eine Bürsten-Arbeit von Pino Pascali aus dem Jahr 1968 ist im kunstraum muenchen sowohl als Live-Projektion als auch als Re-enactment präsent. Die Bürsten haben über den Lauf der Jahre Ihre originale Farbigkeit verloren, die in der Wiederinszenierung nachempfunden wurde.
Werke in der Ausstellung "Thomas Kratz"


Giovanni Anselmo
"Struttura che mangia" (Struktur, die isst), 1968
Re-enactment, 2007
(Standort: privat)


Michael Croissant (von links nach rechts)
Figur, 1992, Bronze geschweißt, WVZ 1183
Figur, 1999, Bronze geschweißt, WVZ 1526
Hand, 1965, Bronze, WVZ 114
Figur, 1999, Bronze geschweißt
Stele, 1999, Bronze g eschweißt, WVZ 1433
Figur, 1996, Bronze geschweißt, WVZ 1258
Figur, 1997, Bronze geschweißt, WVZ 1337
Figur, 1996, Bronze geschweißt, farbig gefasst, WVZ 1246
Figur, 1997, Bronze geschweißt, WVZ 1315
(Standort: Galerie Biedermann, München)


Ian Hamilton Finlay
"Sacred Grove" (Heiliger Hain), 1987
Re-enactment, 2007
(Standort: Institut für Kunstgeschichte, München)


Andrea Mantegna
Wand-Fresko im Palazzo Ducale, Mantua, um 1470
Dia-Projektion
(Standort: kunstraum muenchen)


Pino Pascali
"Baco da Seta" (Seidenraupe), 1968
(Standort: privat)


Pino Pascali
"Baco da Seta" (Seidenraupe), 1968
Re-enactment, 2007
(Standort: kunstraum muenchen)


Michelangelo Pistoletto
"Venere degli stracci" (Lumpen-Venus), 1967
Re-enactment, 2007
(Standort: Museum Villa Stuck)


Helmut Rieger
"Frau, Katze, Vogel", 1987, Mischtechnik auf Papier
(Standort: privat)


Edition anlässlich der Ausstellung im kunstraum muenchen:
Thomas Kratz
"Paolo Rosa", S/W-Fotoabzug, 30 x 40 cm, gerahmt
Auflage: 62 + 10, Preis: 225,-